roessler/ Oktober 5, 2020/

Globaler Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung

Der Zivilisationsbruch der Shoa hat stark divergierende Erklärungen erfahren. In Bezug auf die Aufklärung wird er sowohl als Reaktion auf sie im Sinne eines Gegenschlages wie auch als ihre logische Konsequenz gedeutet. In der zweiten Lesart bilden Rassismus, Irrationalismus und antisemitische Gewalt integrale Bestandteile der westlichen Rationalität.

In der internationalen Aufklärung, dem deutschen Idealismus oder der Romantik en bloc einen antisemitischen Kern ausmachen zu wollen, scheint ein zweifelhaftes Unterfangen. So unterschiedliche Autoren wie Gotthold Ephraim Lessing, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel und sogar der theologisch explizit antijudaistisch argumentierende Hegel waren Befürworter der Judenemanzipation. Die Erklärung für den Judenmord darf man weder nur historisierend in der Geschichte des 20. Jahrhunderts noch in einem sich aus der Aufklärung speisenden Determinismus suchen. Wie aber lässt sich ein erkenntnisstiftendes Verhältnis zwischen diesen beiden Erklärungsmodellen herstellen?

Wie lässt sich die vage Einsicht schärfen, dass die westliche Tradition der Aufklärung durchaus etwas mit den Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts zu tun hat, aber auch ein wichtiges Instrumentarium ist, um solche Exzesse zu bekämpfen? Horkheimer und Adorno haben die Grenzen der Aufklärung wesentlich in deren Reduktion auf eine Rationalität gesehen, die in einer exkludierenden ökonomischen Verwertungslogik gipfelt. Ihrer Dialektik der Aufklärung zufolge werden legitime, aber unerreichte Erwartungen und Hoffnungen der Menschen im Antisemitismus verkapselt. Hat also die Aufklärung selber einen wesentlichen Anteil daran, große Hoffnungen geweckt zu haben, die für zahlreiche Menschen nicht in Erfüllung gegangen sind? Gleichwohl zielt Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung nicht auf ihren Widerruf, „denn Rettung der Aufklärung ist unser Anliegen“. Es wirkt abstrus, wenn sich der hallische Attentäter vom 9. Oktober 2019 oder andere Antisemiten in ihren Schriften – den Turner Diaries, Breiviks Manifest oder den Incel-Foren des Internets – als weiße Männer viktimisieren. Es gilt aufzuklären, warum dies neben Widerspruch auch – verstörende – Resonanz erzeugen kann.

 

Organisation und Leitung: Prof. Dr. Ottfried Fraisse, Prof. Dr. Jörg Dierken und
Prof. Dr. Daniel Fulda

Die Vorträge finden im Christian-Thomasius-Zimmer des IZEA statt, Beginn ist 18 Uhr c.t.

Programm

Es ist vorgesehen, sowohl die Live- als auch die Video-Vorträge im Rahmen einer Videokonferenz zu übertragen. Dazu ist eine Voranmeldung an celine.fiedler@izea.uni-halle.de erforderlich.